Fünfter Auftritt

[182] Orsina. Marinelli.


MARINELLI. Haben Sie es, gnädige Gräfin, nun von ihm selbst gehört, was Sie mir nicht glauben wollen?

ORSINA wie betäubt. Hab' ich? hab' ich wirklich?

MARINELLI. Wirklich.

ORSINA mit Rührung. »Ich bin beschäftiget. Ich bin nicht allein.« Ist das die Entschuldigung ganz, die ich wert bin? Wen weiset man damit nicht ab? Jeden Überlästigen, jeden Bettler. Für mich keine einzige Lüge mehr? Keine einzige kleine Lüge mehr, für mich? – Beschäftiget? womit denn? Nicht allein? wer wäre denn bei ihm? – Kommen Sie, Marinelli; aus Barmherzigkeit, lieber Marinelli! Lügen Sie mir eines auf eigene Rechnung vor. Was kostet Ihnen denn eine Lüge? – Was hat er zu tun? Wer ist bei ihm? – Sagen Sie mir; sagen sie mir, was Ihnen zuerst in den Mund kömmt, – und ich gehe.

MARINELLI vor sich. Mit dieser Bedingung, kann ich ihr ja wohl einen Teil der Wahrheit sagen.[182]

ORSINA. Nun? Geschwind, Marinelli; und ich gehe. – Er sagte ohnedem, der Prinz: »Ein andermal, meine liebe Gräfin!« Sagte er nicht so? – Damit er mir Wort hält, damit er keinen Vorwand hat, mir nicht Wort zu halten: geschwind, Marinelli, Ihre Lüge; und ich gehe.

MARINELLI. Der Prinz, liebe Gräfin, ist wahrlich nicht allein. Es sind Personen bei ihm, von denen er sich keinen Augenblick abmüßigen kann; Personen, die eben einer großen Gefahr entgangen sind. Der Graf Appiani –

ORSINA. Wäre bei ihm? – Schade, daß ich über diese Lüge Sie ertappen muß. Geschwind eine andere. – Denn Graf Appiani, wenn Sie es noch nicht wissen, ist eben von Räubern erschossen worden. Der Wagen mit seinem Leichname begegnete mir kurz vor der Stadt. – Oder ist er nicht? Hätte es mir bloß geträumet?

MARINELLI. Leider nicht bloß geträumet! – Aber die andern, die mit dem Grafen waren, haben sich glücklich hierher nach dem Schlosse gerettet: seine Braut nämlich, und die Mutter der Braut, mit welchen er nach Sabionetta zu seiner feierlichen Verbindung fahren wollte.

ORSINA. Also die? Die sind bei dem Prinzen? die Braut? und die Mutter der Braut? – Ist die Braut schön?

MARINELLI. Dem Prinzen geht ihr Unfall ungemein nahe.

ORSINA. Ich will hoffen; auch wenn sie häßlich wäre. Denn ihr Schicksal ist schrecklich. – Armes, gutes Mädchen, eben da er dein auf immer werden sollte, wird er dir auf immer entrissen! – Wer ist sie denn, diese Braut? Kenn' ich sie gar? – Ich bin so lange aus der Stadt, daß ich von nichts weiß.

MARINELLI. Es ist Emilia Galotti.

ORSINA. Wer? – Emilia Galotti? Emilia Galotti? – Marinelli! daß ich diese Lüge nicht für Wahrheit nehme!

MARINELLI. Wie so?

ORSINA. Emilia Galotti?

MARINELLI. Die Sie schwerlich kennen werden –

ORSINA. Doch! doch! Wenn es auch nur von heute wäre. – Im Ernst, Marinelli? Emilia Galotti? – Emilia Galotti wäre die unglückliche Braut, die der Prinz tröstet?

MARINELLI vor sich. Sollte ich ihr schon zu viel gesagt haben?[183]

ORSINA. Und Graf Appiani war der Bräutigam dieser Braut? der eben erschossene Appiani?

MARINELLI. Nicht anders.

ORSINA. Bravo! o bravo! bravo! In die Hände schlagend.

MARINELLI. Wie das?

ORSINA. Küssen möcht' ich den Teufel, der ihn dazu verleitet hat!

MARINELLI. Wen? verleitet? wozu?

ORSINA. Ja, küssen, küssen möcht' ich ihn – Und wenn Sie selbst dieser Teufel wären, Marinelli.

MARINELLI. Gräfin!

ORSINA. Kommen Sie her! Sehen Sie mich an! steif an! Aug' in Auge!

MARINELLI. Nun?

ORSINA. Wissen Sie nicht, was ich denke?

MARINELLI. Wie kann ich das?

ORSINA. Haben Sie keinen Anteil daran?

MARINELLI. Woran?

ORSINA. Schwören Sie! – Nein, schwören Sie nicht. Sie möchten eine Sünde mehr begehen – Oder ja; schwören Sie nur. Eine Sünde mehr oder weniger für einen, der doch verdammt ist! – Haben Sie keinen Anteil daran?

MARINELLI. Sie erschrecken mich, Gräfin.

ORSINA. Gewiß? – Nun, Marinelli, argwohnet Ihr gutes Herz auch nichts?

MARINELLI. Was? worüber?

ORSINA. Wohl, – so will ich Ihnen etwas vertrauen; – etwas, das Ihnen jedes Haar auf dem Kopfe zu Berge sträuben soll. – Aber hier, so nahe an der Türe, möchte uns jemand hören. Kommen Sie hieher. – Und! Indem sie den Finger auf den Mund legt. Hören Sie! ganz in geheim! ganz in geheim! Und ihren Mund seinem Ohre nähert, als ob sie ihm zuflüstern wollte, was sie aber sehr laut ihm zuschreiet. Der Prinz ist ein Mörder!

MARINELLI. Gräfin, – Gräfin – sind Sie ganz von Sinnen?

ORSINA. Von Sinnen? Ha! ha! ha! Aus vollem Halse lachend. Ich bin selten, oder nie, mit meinem Verstande so wohl zufrieden gewesen, als eben itzt. – Zuverlässig, Marinelli; –[184] aber es bleibt unter uns – Leise. der Prinz ist ein Mörder! des Grafen Appiani Mörder! – Den haben nicht Räuber, den haben Helfershelfer des Prinzen, den hat der Prinz umgebracht!

MARINELLI. Wie kann Ihnen so eine Abscheuligkeit in den Mund, in die Gedanken kommen?

ORSINA. Wie? – Ganz natürlich. – Mit dieser Emilia Galotti, die hier bei ihm ist, – deren Bräutigam so über Hals über Kopf sich aus der Welt trollen müssen, – mit dieser Emilia Galotti hat der Prinz heute Morgen, in der Halle bei den Dominikanern, ein langes und breites gesprochen. Das weiß ich; das haben meine Kundschafter gesehen. Sie haben auch gehört, was er mit ihr gesprochen. – Nun, guter Herr? Bin ich von Sinnen? Ich reime, dächt' ich, doch noch so ziemlich zusammen, was zusammen gehört. – Oder trifft auch das nur so von ungefähr zu? Ist Ihnen auch das Zufall? O, Marinelli, so verstehen Sie auf die Bosheit der Menschen sich eben so schlecht, als auf die Vorsicht.

MARINELLI. Gräfin, Sie würden sich um den Hals reden –

ORSINA. Wenn ich das mehrern sagte? – Desto besser, desto besser! – Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen. – Und wer mir widerspricht – wer mir widerspricht, der war des Mörders Spießgeselle. – Leben Sie wohl. Indem sie fortgehen will, begegnet sie an der Türe dem alten Galotti, der eiligst hereintritt.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 182-185.
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